Biosicherheit und Politik
Im Original bei: quodlibet.it/giorgio-agamben-biosicurezza | 1. Mai 2020
Giorgio Agamben| Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
Auffallend an den Reaktionen auf die in unserem Land (und nicht nur in diesem) ergriffenen außergewöhnlichen Maßnahmen ist die Unfähigkeit, sie über den unmittelbaren Kontext hinaus zu betrachten, in dem sie zu wirken scheinen.
Selten sind diejenigen, die stattdessen versuchen, sie als Symptome und Zeichen eines umfassenderen Experiments zu interpretieren, bei dem es um ein neues Paradigma der Regierung von Menschen und Dingen geht, wie es eine ernsthafte politische Analyse vorschreiben würde. Bereits in einem vor sieben Jahren erschienenen Buch (Tempêtes microbiennes, Gallimard 2013) hat Patrick Zylberman den Prozess beschrieben, durch den die Gesundheitssicherheit, die bisher am Rande des politischen Kalküls stand, zu einem wesentlichen Bestandteil staatlicher und internationaler politischer Strategien wurde. Es geht um nichts Geringeres als die Schaffung einer Art “Gesundheitsterror” als Mittel zur Beherrschung dessen, was als Worst-Case-Szenario bezeichnet wurde. Nach dieser Worst-Case-Logik kündigte die Weltgesundheitsorganisation bereits 2005 an, dass “zwei bis 150 Millionen Todesfälle durch die Vogelgrippe zu erwarten sind”, was auf eine politische Strategie hindeutete, die die Staaten noch nicht zu akzeptieren bereit waren. Zylberman zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung aus drei Punkten bestand: 1) Konstruktion eines fiktiven Szenarios auf der Grundlage eines möglichen Risikos, in dem die Daten so präsentiert werden, dass Verhaltensweisen gefördert werden, die es ermöglichen, eine Extremsituation zu regieren; 2) Übernahme der Logik des Schlimmsten als Regime politischer Rationalität; 3) integrale Organisation des Körpers der Bürger in einer Weise, die die Befolgung staatlicher Institutionen maximal verstärkt und eine Art von superlativem Bürgersinn hervorbringt, in dem auferlegte Verpflichtungen als Beweis für Altruismus dargestellt werden und der Bürger nicht mehr ein Recht auf Gesundheit hat (Gesundheitssicherheit), sondern gesetzlich zur Gesundheit verpflichtet wird (Biosicherheit). Was Zylberman 2013 beschrieb, ist nun eingetreten. Es liegt auf der Hand, dass es sich nicht nur um eine Notsituation handelt, die mit einem bestimmten Virus zusammenhängt, der in Zukunft einem anderen weichen kann, sondern um die Entwicklung eines Regierungsparadigmas, dessen Wirksamkeit die aller Regierungsformen, die die politische Geschichte des Westens bisher kannte, bei weitem übersteigt. Wenn schon beim fortschreitenden Niedergang der Ideologien und politischen Überzeugungen die Gründe der Sicherheit den Bürgern erlaubten, Einschränkungen der Freiheiten zu akzeptieren, die sie zuvor nicht zu akzeptieren bereit waren, so hat sich die Biosicherheit als fähig erwiesen, die absolute Einstellung aller politischen Aktivitäten und sozialen Beziehungen als höchste Form der Bürgerbeteiligung darzustellen. So konnte man das Paradoxon beobachten, dass linke Organisationen, die traditionell daran gewöhnt sind, Rechte einzufordern und Verstöße gegen die Verfassung anzuprangern, vorbehaltlos Einschränkungen der Freiheiten akzeptierten, die durch Ministerialerlasse beschlossen wurden, die jeglicher Rechtmäßigkeit entbehrten und von denen nicht einmal der Faschismus je zu träumen gewagt hätte, sie durchsetzen zu können.
Es ist klar — und die Behörden selbst hören nicht auf, uns daran zu erinnern -, dass die so genannte “soziale Distanzierung” zum Modell der Politik werden wird, die uns erwartet, und dass (wie die Vertreter einer so genannten Task Force, deren Mitglieder sich in einem offensichtlichen Interessenkonflikt mit der Funktion befinden, die sie ausüben sollen, angekündigt haben) sie diese Distanzierung nutzen werden, um überall digitale technologische Geräte durch physische menschliche Beziehungen zu ersetzen, die als solche ansteckungsverdächtig geworden sind (politische Ansteckung natürlich). Die Vorlesungen an den Universitäten werden, wie das MIUR bereits empfohlen hat, ab nächstem Jahr permanent online abgehalten, die Menschen werden sich nicht mehr durch den Anblick ihrer Gesichter, die durch eine Gesundheitsmaske verdeckt sein können, erkennen können, sondern durch digitale Geräte, die biologische Daten erkennen, die gesammelt werden müssen, und jede “Zusammenkunft”, ob aus politischen Gründen oder einfach nur aus Freundschaft, wird weiterhin verboten sein.
Es geht um eine Gesamtkonzeption des Schicksals der menschlichen Gesellschaft in einer Perspektive, die in vielerlei Hinsicht die apokalyptische Vorstellung vom Ende der Welt von den Religionen übernommen zu haben scheint, die nun in die Jahre gekommen sind. Nachdem die Politik von der Wirtschaft abgelöst wurde, muss nun auch diese in das neue Paradigma der Biosicherheit integriert werden, dem alle anderen Bedürfnisse geopfert werden müssen. Es ist legitim zu fragen, ob sich eine solche Gesellschaft noch menschlich nennen kann, oder ob der Verlust von sensiblen Beziehungen, von Gesicht, Freundschaft, Liebe wirklich durch eine abstrakte und vermutlich völlig fiktive Gesundheitssicherheit kompensiert werden kann.
#CyberPolygon ist das neue #CoronaVirus
Stefan M. Seydel, aka sms, aka sms2sms in «Zürcher Festspiel 1901″ (2019, Fotocredit: Charles Schnyder): Twitter, Wikipedia, Youtube (aktuell), Soundcloud, Instagram, Snapchat, TikTok, Twitch
Stefan M. Seydel/sms ;-)
(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Sozialarbeiter, Künstler.
Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Pendelte bis 2010 als Macher von rebell.tv zwölf Jahre zwischen Bodensee und Berlin. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Ruhendes Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Ende 2018 entwickelte er in Zürich-Hottingen in vielen Live-Streams – u.a. in Zusammenarbeit mit Statistik Stadt Zürich und Wikimedia Schweiz – den Workflow WikiDienstag.ch, publizierte während der Corona-Krise in der NZZ einen Text über Wikipedia, initiierte das #PaulWatzlawick-Festival 2020 mit und sammelt im Blog von Carl Auer Verlag, Heidelberg, «Elemente einer nächsten Kulturform». Im Juli 2020 kehrt er mit seinem 1997 gegründeten Unternehmen (Spin-Off mit Aufträgen der FH St. Gallen, Gesundheitsdirektion Kanton St. Gallen, Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der EU aus einer Anstellung als Leiter Impuls- und Pilotinterventionen für die Aids-Hilfe St. Gallen/Appenzell) zurück nach Dissent.is/Muster, mitten in die Schweizer Alpen.
Textsorte: (1) Traum, (2) Blitz, (3) Bekenntnis, (4) Memo, (5) Märchen, (6) Drama, (7) Tabu
Arbeitsform: Dokumentation, Listenbildung, Work in Progress
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