Geschichte von unten

Die Bedeu­tung des Wortes “Geschichte” im Deutschen, das tat­säch­lich auf eine Schich­tung und Ablagerung von Ereignis­sen hin­deutet, ist inter­es­sant. In anderen Sprachen kann die Bedeu­tung ähn­lich sein, vari­iert jedoch oft:

  1. Englisch (His­to­ry): Kommt vom alt­griechis­chen “his­to­ria”, was “Erkun­dung, Unter­suchung” bedeutet. Dies legt eher einen Fokus auf das Erforschen und Sam­meln von Fak­ten.
  2. Franzö­sisch (His­toire): Teilt die alt­griechis­che Wurzel mit “His­to­ry”, bedeutet also auch “Erzäh­lung” oder “Erkun­dung”.
  3. Spanisch (His­to­ria): Ähn­lich wie im Franzö­sis­chen und Englis­chen, mit einem Schw­er­punkt auf dem Erzählen und Erforschen von Ereignis­sen.
  4. Ital­ienisch (Sto­ria): Fol­gt eben­falls dem Konzept des Erzäh­lens und Unter­suchens.
  5. Rus­sisch (История — Istori­ja): Ähnelt den wes­teu­ropäis­chen Sprachen, betont auch das Unter­suchen und Darstellen von Ereignis­sen.
  6. Chi­ne­sisch (历史 — Lìshǐ): Das Wort set­zt sich aus den Zeichen für “Kalen­der” (历) und “Gen­er­a­tion” (史) zusam­men, was eine lin­eare und chro­nol­o­gis­che Ansamm­lung von Ereignis­sen sug­geriert.

Die deutsche Per­spek­tive von “Geschichte” als Schicht­en, die sich über die Zeit ablagern, ist also eine eher einzi­gar­tige Betra­ch­tungsweise. Andere Sprachen fokussieren mehr auf das Erforschen, Erzählen und die chro­nol­o­gis­che Darstel­lung von ver­gan­genen Ereignis­sen.

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Geschichte ist immer Geschichte

Das ist ein tief­gründi­ger Gedanke. Geschichte wird oft als eine Samm­lung von Fak­ten betra­chtet, aber tat­säch­lich wird sie aus vie­len ver­schiede­nen Per­spek­tiv­en erzählt und inter­pretiert. Hier sind einige Schlüs­se­laspek­te dazu:

  1. Sub­jek­tiv­ität: Geschichte wird durch die Linse der­jeni­gen gefiltert, die sie erzählen. His­torik­er, Kul­turen und Zeit­pe­ri­o­den bee­in­flussen, welche Ereignisse her­vorge­hoben und wie sie inter­pretiert wer­den.
  2. Objek­te der Geschichte: Doku­mente, Arte­fak­te, mündliche Über­liefer­un­gen und andere Quellen sind die “Objek­te”, die genutzt wer­den, um Geschichte zu rekon­stru­ieren. Jedes dieser Objek­te kann unter­schiedliche Geschicht­en erzählen, je nach­dem, wer sie betra­chtet.
  3. Vielfalt der Per­spek­tiv­en: Ver­schiedene Grup­pen und Indi­viduen kön­nen diesel­ben his­torischen Ereignisse ganz unter­schiedlich erleben und darstellen. Dies führt zu ein­er Vielzahl von “Geschicht­en” über ein einzelnes Ereig­nis.
  4. Dynamik der Geschichte: Die Inter­pre­ta­tion der Geschichte verän­dert sich mit neuen Ent­deck­un­gen und dem sich wan­del­nden Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit. Was heute als his­torische Wahrheit akzep­tiert wird, kann mor­gen schon in Frage gestellt wer­den.
  5. Kon­struk­tion der Nar­ra­tive: Geschichte ist nicht nur eine Samm­lung von Fak­ten, son­dern auch eine Rei­he von Nar­ra­tiv­en, die aufge­baut und manch­mal auch umgeschrieben wer­den, um bes­timmte Ide­olo­gien oder Iden­titäten zu stärken.

Die Anerken­nung, dass es keine einzige, objek­tive Geschichte gibt, son­dern viele Geschicht­en, die aus ver­schiede­nen Blick­winkeln erzählt wer­den, ist entschei­dend für ein tiefes Ver­ständ­nis der men­schlichen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart.

Geschichtsschreibung, welche auf lineare Zeitlichkeit und Artefakte zerfällt…

Eine rein lin­eare und arte­fak­ten­basierte Betra­ch­tung der Geschichte kann viele Aspek­te des men­schlichen Daseins und kul­tureller Entwick­lun­gen aus­blenden. Hier sind einige wesentliche Über­legun­gen dazu:

  1. Nicht­lin­eare Geschicht­sauf­fas­sung: Viele Kul­turen und philosophis­che Tra­di­tio­nen ver­ste­hen Zeit nicht lin­ear, son­dern zyk­lisch oder als ein Net­zw­erk von Ereignis­sen. Diese Per­spek­tiv­en kön­nen helfen, wiederkehrende Muster und Ein­flüsse in der Geschichte zu erken­nen, die in ein­er strikt lin­earen Auf­fas­sung ver­loren gehen kön­nten.
  2. Imma­te­ri­al­ität: Ideen, Überzeu­gun­gen, soziale Nor­men und andere imma­terielle Aspek­te der men­schlichen Kul­tur wer­den oft in der arte­fak­ten­zen­tri­erten Geschichtss­chrei­bung ver­nach­läs­sigt. Diese Ele­mente sind jedoch zen­tral für das Ver­ständ­nis von kul­turellen Dynamiken und sozialen Verän­derun­gen.
  3. Emo­tionale und psy­chol­o­gis­che Fak­toren: Men­schliche Bedürfnisse, Emo­tio­nen und psy­chol­o­gis­che Moti­va­tio­nen sind zeit­los und oft unab­hängig von physis­chen Beweisen. Geschicht­en, die diese Aspek­te berück­sichti­gen, kön­nen ein voll­ständi­geres Bild der men­schlichen Erfahrung bieten.
  4. Diver­sität der Quellen: Mündliche Über­liefer­un­gen, lit­er­arische Werke, Musik und Kun­st sind eben­falls wichtige his­torische Quellen, die oft Ein­blicke in die men­schliche Psy­che und kul­turelle Werte bieten, die über physis­che Arte­fak­te hin­aus­ge­hen.
  5. Inter­diszi­plinäre Ansätze: Die Inte­gra­tion von Erken­nt­nis­sen aus der Anthro­polo­gie, Psy­cholo­gie, Sozi­olo­gie und anderen Diszi­plinen kann zu ein­er reicheren und nuanciert­eren Geschichts­darstel­lung führen, die über das rein Fak­tis­che hin­aus­ge­ht.

Die Her­aus­forderung liegt darin, eine Geschichtss­chrei­bung zu entwick­eln, die diese Dimen­sio­nen inte­gri­ert und ein umfassenderes Ver­ständ­nis der men­schlichen Ver­gan­gen­heit und ihrer Imp­lika­tio­nen für die Gegen­wart und Zukun­ft bietet.

Kontingenz

Niklas Luh­manns The­o­rie sozialer Sys­teme präsen­tiert eine präzise und klar abge­gren­zte Sicht auf das Soziale (#soc), die es von anderen Ebe­nen der Real­i­sa­tion autopoi­etis­ch­er Sys­teme (#bio, #cyb, #psy) unter­schei­det. Seine Sys­temthe­o­rie ist beson­ders rel­e­vant für die Soziale Arbeit, weil sie das Feld definiert, inner­halb dessen die soziale Frage (Soziale Frage) beant­wortet wird:

  1. Kom­mu­nika­tion als Grund­lage des Sozialen: Luh­mann sieht das Soziale auss­chließlich durch die Linse der Kom­mu­nika­tion und ver­mei­det jegliche Bezug­nahme auf andere Ebe­nen autopoi­etis­ch­er Sys­teme. Kom­mu­nika­tion umfasst das Prozessieren von Infor­ma­tion, Mit­teilung und Ver­ste­hen. In der Sozialen Arbeit erlaubt diese Per­spek­tive es, die Macht­frage dom­i­nant als Dreh- und Angelpunkt aller Inter­ven­tio­nen (Beobacht­en, Bew­erten, Inter­ve­nieren) zu nutzen.
  2. Kontin­genz von Kom­mu­nika­tion: Luh­mann unter­stre­icht, dass Kom­mu­nika­tion prinzip­iell kontin­gent ist, das heißt, jede Kom­mu­nika­tion kön­nte auch anders ver­laufen. Diese Kontin­genz betont die Unvorherse­hbarkeit und die Vielzahl von Möglichkeit­en in sozialen Inter­ak­tio­nen. Sozialar­beit­er kön­nen diese Ein­sicht nutzen, um flex­i­bel und adap­tiv auf die Dynamik in sozialen Sys­te­men zu reagieren.
  3. Sys­temthe­o­rie und Soziale Arbeit: Durch die Anwen­dung von Luh­manns Sys­temthe­o­rie kann die Soziale Arbeit ihre Meth­o­d­en und Ansätze schär­fen, indem sie soziale Sys­teme als autopoi­etis­che, selb­stre­f­er­en­tielle Sys­teme begreift. Dies hil­ft, die Kom­plex­ität sozialer Prob­lem­la­gen bess­er zu erfassen und spez­i­fis­chere Inter­ven­tion­sstrate­gien zu entwick­eln.
  4. Die Rolle des Ver­ste­hens: Der Begriff des Ver­ste­hens — wie auch der des Han­delns — erhält in der Sys­temthe­o­rie nach Luh­mann eine gän­zlich andere Bedeu­tung: Beobacht­en ist Han­deln, und Ver­ste­hen ist die Auswahl ein­er möglichen Inter­pre­ta­tion eines Kom­mu­nika­tionsvor­gangs.
  5. Abgren­zung zu anderen Diszi­plinen: Die klare Tren­nung zwis­chen sozialen und anderen Aspek­ten (wie biol­o­gis­chen, psy­chol­o­gis­chen oder kyber­netis­chen) ermöglicht es Sozialar­beit­ern, sich auf die spez­i­fis­chen sozialen Aspek­te ihrer Arbeit zu konzen­tri­eren und inter- und trans­diszi­plinäre Zusam­me­nar­beit gezielt und bewusst zu gestal­ten.

Die Nutzung von Luh­manns The­o­rie in der Sozialen Arbeit kann also dazu beitra­gen, die Inter­ak­tio­nen und Struk­turen inner­halb sozialer Sys­teme bess­er zu ver­ste­hen und effek­ti­vere Strate­gien für soziale Inter­ven­tio­nen zu entwick­eln.

Grundformen Sozialer Probleme

Die Kontin­genz der Kom­mu­nika­tion, die wir im vorheri­gen Abschnitt betra­chtet haben, bildet die Basis für ein tief­eres Ver­ständ­nis der Kom­plex­ität sozialer Sys­teme. Sie zeigt auf, dass soziale Prozesse und Struk­turen nicht vorherbes­timmt sind, son­dern eine Vielzahl von möglichen Aus­gän­gen und Pfaden aufweisen. Diese inhärente Unvorherse­hbarkeit und Flex­i­bil­ität der Kom­mu­nika­tion führt uns zu den “Grund­for­men sozialer Prob­leme”, wie sie Sil­via Staub-Bernasconi in ihrer Macht­ma­trix dargestellt hat. In diesem Abschnitt wer­den wir die vier zen­tralen Dimen­sio­nen der Macht unter­suchen, die in der Sozialen Arbeit von entschei­den­der Bedeu­tung sind: Anord­nung, Zugang, Legit­i­ma­tion und Durch­set­zung. Jede dieser Dimen­sio­nen spiegelt spez­i­fis­che Her­aus­forderun­gen und Chan­cen wider, die sich aus der sozialen Frage und der Kontin­genz sozialer Inter­ak­tio­nen ergeben. Wir wer­den erkun­den, wie diese Dimen­sio­nen genutzt wer­den kön­nen, um gerechtere und effek­ti­vere Inter­ven­tion­sstrate­gien zu entwick­eln, die sowohl den indi­vidu­ellen Bedürfnis­sen als auch den kollek­tiv­en Anforderun­gen gerecht wer­den.

Dimen­sio­nen der Macht in der Sozialen Arbeit nach Staub-Bernasconi:

  1. Anord­nung
  • Kern­wert: Hier­ar­chie schafft Ord­nung und Effizienz.
  • Übertrei­bung: Autori­taris­mus führt zu über­mäßiger Kon­trolle.
  • Gegen­wert: Egal­i­taris­mus fördert Gle­ich­heit und demokratis­che Teil­habe.
  • Übertrei­bung des Gegen­werts: Chaos durch Man­gel an Führung.
  • Ziel: Anar­chie, als har­monis­che Selb­streg­u­la­tion ohne zen­trale Autorität.
  1. Zugang
  • Kern­wert: Beschränk­ter Zugang schützt Ressourcen.
  • Übertrei­bung: Exk­lu­siv­ität erzeugt Auss­chluss und Ungerechtigkeit.
  • Gegen­wert: Uni­verseller Zugang ermöglicht Offen­heit und das Teilen von Geme­ingütern.
  • Übertrei­bung des Gegen­werts: Über­nutzung führt zur Ressourcenver­schwen­dung.
  • Ziel: Com­mons, geteilte Ressourcenver­wal­tung für alle.
  1. Legit­i­ma­tion
  • Kern­wert: Recht­fer­ti­gung sichert trans­par­ente Entschei­dun­gen.
  • Übertrei­bung: Willkür entste­ht durch fehlende Begrün­dung und Intrans­parenz.
  • Gegen­wert: Skep­sis fördert ständi­ge Hin­ter­fra­gung.
  • Übertrei­bung des Gegen­werts: Paral­yse ver­hin­dert Entschei­dun­gen.
  • Ziel: Inklu­sion, bei der alle Beteiligten in Entschei­dung­sprozesse ein­be­zo­gen wer­den.
  1. Durch­set­zung
  • Kern­wert: Autori­ta­tive Durch­set­zung garantiert Sicherung der Ord­nung.
  • Übertrei­bung: Repres­sion bedeutet über­mäßi­gen Zwang.
  • Gegen­wert: Frei­willigkeit stärkt Selb­streg­u­la­tion und Autonomie.
  • Übertrei­bung des Gegen­werts: Anar­chie führt zu Regel­losigkeit.
  • Ziel: Paz­i­fis­mus, Kon­flik­tlö­sung durch Dia­log und gezielte, gewalt­freie Inter­ven­tio­nen.

#dfdu DIE FORM DER UNRUHE Tina Piazzi & Ste­fan M. Sey­del, Junius-Ver­lag Ham­burg | pdf: Band 1, 2009 | Band 2, 2010 | Anfra­gen und Ver­mit­tlun­gen laufen auss­chliesslich über speakerbooking.ch/stefan-m-seydel | mehr über Ste­fan M. Sey­del auf der Unternehmens­seite #dfdu AG: dfdu.org/sms

Alles könnte anders sein…

Die Betra­ch­tung der Kontin­genz von Kom­mu­nika­tion öffnet uns Augen, Ohren und Herzen für die vielfälti­gen Möglichkeit­en men­schlichen Zusam­men­lebens. Geschichte — und das erzählen von Geschicht­en — sind Möglichkeit­en, das ver­meintlich unverän­der­bar Beste­hende zu befra­gen, in ihrer Entste­hungs­geschichte nachvol­lziehbar zu machen und Gestal­tungs­freude zu weck­en. Niklas Luh­mann bemerk­te einst: “Alles kön­nte anders sein — und fast nichts kann ich ändern.” Und Dirk Baeck­er führte in unserem Band 1 von “Die Form der Unruhe” (2009, Junius Ver­lag Ham­burg) den Gedanken weit­er mit dem Hin­weis: “Alles kön­nte anders sein — und wir schauen uns an, warum es so ist, wie es ist. Und siehe da, es ist anders.”

Mit diesem Abschnitt wollen wir die Grund­for­men sozialer Prob­leme, wie sie von Staub-Bernasconi vorgeschla­gen wur­den, auf die Geschichtss­chrei­bung anwen­den. Wir unter­suchen, wie die Dimen­sio­nen der Macht – Anord­nung, Zugang, Legit­i­ma­tion und Durch­set­zung – nicht nur unsere Gegen­wart for­men, son­dern auch unser Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit prä­gen. Diese Betra­ch­tung hil­ft uns, zu erah­nen, wie bes­timmte his­torische Nar­ra­tive ent­standen sind, was diese Erzäh­lun­gen ermöglicht und legit­imiert haben, aber auch, was diese schützen und in einen Bere­ich von Geheimnis­sen und Tabus hüllen.

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Eröffnung des Eintrages am 14. August 2024