Schloss Gottlieben

jan hus predigtpreis 2015 — die eingabe von /sms ;-)

jan hus predigtpreis 2015

evan­ge­lis­che brüder-unität
z.Hd. benigna carstens
post­fach 21
d 02745 her­rn­hut
ebu.de/predigtpreis/

eingabe von
ste­fan m. sey­del/sms ;-)
rebell.tv | dfdu.org | dissent.is

kurzvorstel­lung der per­son: dfdu.org/sms

predigt in der kreuzkirche zürich-hot­tin­gen bei pfrn. hei­drun suter-richter
son­ntag, 25. okto­ber 2015, 10h, neumuenster.ch

vor­trags­dauer: 20min

lied­vorschläge:
vorher: befiehl du deine wege, paul ger­hardt (alle stro­phen)
nach­her: wer nur den lieben gott lässt wal­ten, georg neu­mark

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das ist meine erste predigt.

pfar­rerin hei­drun suter-richter habe ich an unserem quartier­fest hot­tin­gen 2015 auf ein­er fes­t­bank ken­nen gel­ernt. zufäl­lig. ich erzählte ihr begeis­tert, dass ich mich zum allen ersten mal mit der textform ein­er predigt beschäfti­gen würde. sie lachte und lud mich spon­tan ein, diese predigt tat­säch­lich zu hal­ten. bei ihr. in der kreuzkirche. das datum war schnell erfun­den: genau ein woch­enende vor mein­er fik­tiv­en predigt in her­rn­hut. genau ein woch­enende vor dem refor­ma­tion­sson­ntag. ich schreibe diesen text also für eine fik­tive predigt in her­rn­hut. für eine eventuell mögliche predigt in zürich. ich tue beim schreiben so, als würde ich reden. dabei notiere ich mir:

immer am 1. son­ntag im novem­ber bege­hen wir den refor­ma­tion­sson­ntag. 2017 wurde als luther-jahr in deutsch­land aus­gerufen. 2018 als zwingli-jahr in der schweiz. so erin­nern wir uns heute an den 6. juli 1415. an diesem tag wurde jan hus in kon­stanz ver­bran­nt. wir erin­nern uns an den sep­tem­ber 1524. kon­rad grebel sass in zürich an seinem schreibtisch. er schrieb einen brief an thomas müntzer in sach­sen. uns wurde dieser brief zum früh­esten doku­ment protes­tantis­chen freikirchen­tums. und immer so weit­er.

was wäre unser erin­nern an all diesen fes­tiv­itäten, ohne unser gedenken, ohne ein erneuern?
wir erin­nern uns ergrif­f­en an gelun­gene refor­men.
wir gedenken unter trä­nen den ver­fehlun­gen dieser über­for­mungen.
wir erneuern am refor­ma­tion­sson­ntag und in den jahren 2017 und 2018 im beson­deren den mut, die form unseres zusam­men­lebens so anzu­passen, dass es wieder etwas bess­er passt.

(pause)

darf ich sie bit­ten, für die lesung der her­rn­huter losun­gen für den refor­ma­tion­sson­ntag vom 1. novem­ber 2015 aufzuste­hen:

die erste losung fiel auf jesa­ja 47,13
du hast dich müde gemacht mit der menge dein­er pläne.

die zweite losung ist uns zuge­fall­en aus markus 9,33+34
jesus fragte die jünger: was habt ihr auf dem weg ver­han­delt? sie aber schwiegen; denn sie hat­ten auf dem weg miteinan­der ver­han­delt, wer der grösste sei.

die gnade unseres her­rn jesus chris­tus, und die liebe gottes und die gemein­schaft des heili­gen geistes, sei mit uns allen, amen.

(die gemeinde set­zt sich wieder)

vom predigt­preis der her­rn­huter brüderge­meine, der evan­ge­lis­chen brüder-unität, habe ich in einem kreativ-meet­ing zur ideen­find­ung für “500 jahre ref­or­ma­tion” in zürich erfahren. der direk­tor vom cabaret voltaire, spiegel­gasse 1, zürich, welch­er 2016 100 jahre DADA feiert und sich eine ref­or­ma­tion wün­scht, hat mich zum tre­f­fen mit dem pro­jek­tleit­er des zwingli-jahres der evan­ge­lis­chen kirche hinzuge­zo­gen.

es war für mich sofort klar, dass ich einen text für den predigt­preis in her­rn­hut machen will. das hat psy­chol­o­gis­che gründe. wie fast alles. das hat biografis­che gründe. wie so manch­es. für mich als sozialar­beit­er, als ein arbeit­er am sozialen, hat das strate­gis­che gründe.  aber eben: meine mut­ter pflegte den spruch  (Sprüche 16,9): “der men­sch denkt, gott  lenkt.” diesen text — in der form ein­er predigt — muss ich daher meinen eltern wid­men. meinem ver­stor­be­nen vater. ger­hardt paul. oder paul ger­hardt, wie er lieber genan­nt wor­den wäre. das eben gesun­gene lied, ist wohl erk­lärung genug für seinen wun­sch.

als klein­er bub wurde mir mehrfach und stets emo­tion­al die hin­ter­hältige geschichte von jan hus erzählt. wir standen in den riesi­gen schat­ten der kas­tanien­bäu­men vor der drachen­burg und mein vater zeigte auf den düsteren, damals noch unren­ovierten, baufäl­li­gen schlossturm: “dort! dort drin haben sie ihn eingek­erk­ert. sie haben ihn ein­ge­laden, seine the­sen zu vertreten. sie haben ihn ver­bran­nt.” ich bin bürg­er von got­tlieben. und meine abscheu gegenüber macht­geilen und gewalt­bere­it­en ist vererbt. beson­ders schmer­zlich bei jenen poten­tat­en, welche vorgeben im namen gottes, im namen allahs, im namen JHWH’s zu han­deln. “Hier ste­he ich und kann nicht anders!” ich füh­le auf der seite der mär­tyr­er. ich han­dle aus der per­spek­tive der schwachen. ich denke auf der seite der ver­lier­er. das ist beson­ders unmöglich zu ertra­gen, wenn in zürich-hot­tin­gen gelebt wird: dem irdis­chen paradies aller möglichen weltlichen paradiese.

unsere fam­i­lie musste ein­mal darüber ver­han­deln, ob wir unseren vater “abstellen” sollen. die spezialk­liniken nutzen men­schliche kör­p­er, um medi­z­inal­tech­nisch, chemisch, phar­mazeutisch getriebene aktien­pakete an der börse im steilen höhen­flug zu hal­ten. nicht mehr funk­tion­ierende organe tauschen wir aus. gelenke schon lange. rou­tinemäs­sig. wenn sie sich frische brüste wün­schen, ist das inzwis­chen ganz nor­mal. die gute nachricht für män­ner presste sich kür­zlich durch sozial platt gemachte for­men: die trans­plan­ta­tion von penis­sen ste­ht jet­zt auch auf der liste des funk­tion­ierend möglichen. das alpha­bet des grauens: A wie Atom. B wie Biolo­gie. C wie Chemie. D wie Drohne. E wie Ekel. F wie Frack­ing. Soll ich weit­er machen?

du hast dich müde gemacht mit der menge dein­er pläne.

meine mut­ter erzählte mir stets schmun­zel­nd die geschichte, wie ihr vater grosse aufträge ver­loren hat. er soll sich geweigert haben einem regierungsrat des kan­tons bern mit HERRN anzus­prechen. er sagte zum hohen her­rn: “es gibt nur einen her­rn. und der ist im him­mel.” in gesicht. meine mut­ter kommt aus ein­er brüderge­meinde im emmen­tal. mein vater war predi­ger und erwach­se­nen­täufer. und wenn ich hier über die fin­ger­spitzen ein­er tas­tatur mich durch die natur mein­er kul­tur taste und leuch­t­ende und nicht leuch­t­ende pix­el auf einen screen jage, diese dann über elek­tri­fizierte, lichter­füllte glask­a­bel nach her­rn­hut schicke, damit diese dann dort auf einem anderen bild­schirm wun­der­sam erscheinen, damit dort geprüft wer­den kann, welchen preis diese predigt hat… ich spüre, wie mein vater seinen kopf verneinend dreht und weit­er seine psalmen murmelt. allem muss einen preis zuge­sprochen wer­den. sog­ar ein­er predigt. es ist wie bei den erbärm­lichen kap­i­tal­is­ten.

jesus fragte die jünger: was habt ihr auf dem weg ver­han­delt? sie aber schwiegen; denn sie hat­ten auf dem weg miteinan­der ver­han­delt, wer der grösste sei.

es kommt eine eMail. in hol­prigem englisch antworte ich, dass ich gerne mitkomme. junge stu­den­ten haben mich ein­ge­laden, etwas ausser­halb von ther­an den sam­stag nach­mit­tag zu ver­brin­gen. wir set­zen uns in ein tee­haus. knab­bern nüss­chen. trinken tee. und die jun­gen akademik­er und dok­torandin­nen zitieren — hav­iz. sie lesen laut vor und kor­rigeren sich gegen­seit­ig bei den beto­nun­gen und into­na­tio­nen. ich ver­ste­he kein wort. aber die inbrun­st und ern­sthaftigkeit kom­mun­ziert. (kom­mu­nika­tion kom­mun­ziert. nicht men­schen.) ich frage später, was das soll. die amerikan­er hät­ten doch gestern nach­mit­tag grad krieg ange­dro­ht. es wäre doch bess­er gemein­sam BBC zu schauen und die poli­tis­chen fra­gen zu disku­tieren. — medi­en? massen­me­di­en? wir trauen ihnen nicht. wir trauen ihnen alles zu. in der gestal­tung des neuen, ver­trauen wir auf die erfahrun­gen des noch älteren:

Du hast dich müde gemacht mit der Menge dein­er Pläne. Es sollen hertreten und dir helfen die Meis­ter des Him­mel­slaufs und die Stern­guck­er, die an jedem Neu­mond kund­tun, was über dich kom­men werde! Siehe, sie sind wie Stop­peln, die das Feuer ver­bren­nt, sie kön­nen ihr Leben nicht erret­ten vor der Flamme Gewalt. Denn es wird nicht eine Glut sein, an der man sich wär­men, oder ein Feuer, um das man sitzen kön­nte.  So sind alle, um die du dich bemüht hast, die mit dir Han­del trieben von dein­er Jugend auf: ein jed­er wird hier­hin und dor­thin wanken, und du hast keinen Ret­ter.

notiert vor weit über 2000 jahren. wohl schon vor 3000 jahren von men­schen erlebt und erlit­ten. tausendun­dein­mal erzählt.  tausendun­dein­mal abgeschrieben.  tausendun­dein­mal gepredigt… die meis­ter des him­mel­slaufs. die stern­guck­er. die besser­wiss­er. die genauer­wiss­er. die richtig­wiss­er.

ein jed­er wird hier­hin und dor­thin wanken, und du hast keinen Ret­ter.

die spitze fed­er­spitze von thomas müntzer tötete men­schen. zinzen­dorf ermutigte zur mis­sion­ierung. wur­den damit ver­lorene see­len gerettet? keine ahnung. aber was wir nicht vergessen kön­nen, ist, dass bis zum heuti­gen tag wed­er die kolo­nial­isierung been­det noch die dekolo­nial­isierung ange­fan­gen wurde. zwingli feiern wir in zürich als refor­ma­tor. aber er guck­te wohl nicht bloss zu, wie die täufer in der lim­mat ersäuft wur­den…

gedenk­tage sind denk­tage. ein denkmal ist ein befehl. das zeigt ja schon das wort: denk mal! die allerbeste tat, in der aller­fe­in­sten grund­hal­tung, in der hinge­bungsvoll­sten selb­st­losigkeit:

an ihren frücht­en sollt ihr sie erken­nen.” (math 7,16)

du kannst nicht wis­sen, wie sich dein wirken auswirkt. aber es ist unüberse­hbar, dass alle refor­men, welche unan­nehm­bare soziale zustände in eine andere form über­führten, später selb­st reformbedürftig wer­den. als sozialar­beit­er — als ein arbeit­er am sozialen — ist es eine ganz typ­is­che beobach­tung, dass ins­beson­dere prob­lem­lö­sungsver­suche prob­leme schaf­fen. die demut im einzel­nen akt ein­er hand­lung, nährt sich aus dem mut, nicht zu wis­sen, wie sich auswirkt, was wir zu bewirken suchen. “der men­sch denkt, gott lenkt.”

wenn wir uns am refor­ma­tion­sson­ntag freudig erin­nern, dann betreiben wir mutiges sto­ry­telling. wir bericht­en uns gegen­seit­ig von wüti­gen men­schen, welche mutig die zumu­tun­gen an ihr leben abgelehnt und frische vorschläge für ein besseres leben gemacht haben.

500 jahre sind viel zu viel. 500 jahre sind genug. es ist offen­sichtlich. auch wir haben uns schuldig gemacht.

weil wir vor lauter “machet euch die erde unter­tan” (1. Mose 1,28), uns über die natur erhoben haben. weil wir sie aus­nützen, grad wie sie uns nützt. viel mehr noch: wir prof­i­tieren davon, dass men­schen unser­er soge­nan­nten zivil­i­sa­tion die ganze erde mit einem einzi­gen knopf­druck in einen gän­zlich anderen zus­tand zu befördern ver­ste­hen. um gle­ich die extrem­vari­ante der beschä­menden unver­schämtheit zu benen­nen.

wir haben uns schuldig gemacht.

weil wir bere­it gewe­sen sind, auf glob­alem niveau “den ersten stein” zu wer­fen. (1. Johannes 8) wir haben unsere eige­nen regeln über die glaubenssätze aller anderen gestellt. wir sind nutzniessende davon, das der kampf der kul­turen, die men­schen hin­ter unseren zäunen, uns zuzu­di­enen haben. nach unseren spiel­regeln. nach unseren preisvorstel­lun­gen. nach unseren gelüsten, egal wie niedrig und verächtlich diese auch sein mögen. um gle­ich die extrem­vari­anten der beschä­menden unver­schämtheit­en in die fan­tasie zu lock­en.

wir machen uns grad schuldig.

weil wir nicht zugeben wollen, dass kom­mu­nis­mus und kap­i­tal­is­mus bloss die seit­en ein und der­sel­ben münze sind. dass der realex­istierende kap­i­tal­is­mus auch kein schützenswertes gut ist. weil: wenn die ober­ste got­theit dieser mate­ri­al­is­tis­chen welt “das golde kalb” (2. mose 32ff) ist, es dann kon­se­quent wäre, “geld als mit­tel zur frei­heit” anzuerken­nen und das elend zu been­den, men­schen — kinder gottes, wie wir sagen — als “ich AG” zu addressieren. reduziert auf ein ökonomis­ches gebilde, was, wenn es lei­det, doch bloss einen sub­op­ti­malen busi­ness­plan präsen­tiert und mit einem coolen coach­ing jed­wede kri­tik an staat, gesellschaft und gemein­schaft verun­möglicht.

es ist nicht wahr, dass die christliche reli­gion in all ihren verzwei­gun­gen keine schuld im prozess der mod­erne, der mech­a­nisierung, der aktuellen post-indus­tri­al­isierung trägt. ganz im gegen­teil. aus der wun­der­baren idee — um nur ein einziges beispiel zu benen­nen — dass es keine ver­mit­tlung braucht zwis­chen einem einzel­nen, in sein­er unan­tast­baren würde einzel­nen men­schen und dem, was unfass­bar, unvorstell­bar, unbe­nennbar wir gott, allah, JHWH nen­nen, wurde umstand­los atom­isier­eren­der, ego­is­tis­ch­er, ego­man­is­ch­er, egozen­trisch­er indi­vid­u­al­is­mus. während wir über lange zeit — auch und ger­ade in der mis­sion­ierung — die rück­bindung dieser idee in das soziale engage­ment behauptet wer­den kon­nte, haben wir trotz offen­sichtlich­stes besseren wis­sens keine angemessene aktu­al­isierung entwick­elt. wir erzählen uns so gerne die geschichte vom “barmherzi­gen samarit­er” (lukas 10, 30ff). aber:

  • wer ist dieser ver­let­zte, welch­er von räu­bern niedergeschla­gen wor­den ist?
    (pause)
  • wer ist jen­er feind, welche in den evan­gelien nach matthäus und lukas wir zu lieben ein­ge­laden sind?
    (pause)
  • wer ist jen­er ger­ing­ste, welchem wir gutes tun kön­nen (matthäus 25,40).
    (pause)

geht es ihnen wie mir? sind ihnen ganz spon­tan auch mögliche antworten gekom­men?
sie tun weh. alle­samt. 500 jahre sind genug. jet­zt braucht es mut.

(pause)

wir erin­nern uns ergrif­f­en an gelun­gene refor­men.
wir gedenken unter trä­nen den ver­fehlun­gen dieser über­for­mungen.
wir erneuern am refor­ma­tion­sson­ntag und in den jahren 2017 und 2018 im beson­deren den mut, die form unseres zusam­men­lebens so anzu­passen, dass es wieder etwas bess­er passt.

das war meine erste predigt. ich wün­sche uns, dass wir zu jenen men­schen gehören dür­fen, welchen die kraft gegeben ist, auszus­prechen: “hier ste­he ich und kann nicht anders.” (Luther/pause) “ich wieder­rufe nicht.” (Hus/pause) wollen sie zum abschluss sich noch ein­mal mit mir empören, sich erheben, auf­ste­hen, um in aufrechter hal­tung gemein­sam das dreifache “kyrie elei­son” beten?

  • Herr, erbarme dich!
    Gemeinde: Herr, erbarme dich!
  • Chris­tus, erbarme dich!
    Gemeinde: Chris­tung, erbarme dich!
  • Herr, erbarme dich!“
    Gemeinde: Herr, erbarme dich!

Amen.

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NACHTRÄGE:

Schloss Gottlieben
https://denkmalpflege-schweiz.ch/2014/08/20/schloss-gottlieben-ein-wasserschloss-mit-kulturhistorischer-bedeutung/

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