(0) GRUNDFORMEN SOZIALER PROBLEME
dissent.is/Grundformen
(1) DIE AXIOME: #TheLuhmannMap
dissent.is/TheLuhmannMap
(1.5) DIE TEXTQUELLEN: #TheLuhmannReader
dissent.is/TheLuhmannReader
(2) VIER MACHTDIMENSIONEN: #TheStaubBernasconiMatrix
dissent.is/TheStaubBernasconiMatrix
(2.5) Job, Beruf, Profession, Disziplin: #SozialeArbeit
dissent.is/SozialeArbeit

Arbeitsstand: 16. März 2025/sms ;-)
Die Axiome nach Silvia Staub-Bernasconi aus der Zürcher SchuleWas ist ein Axiom?
Ein Axiom ist eine Grundannahme, die nicht bewiesen wird, sondern als Setzung dient. Es strukturiert ein Denksystem und legt fest, worauf weitere Aussagen aufbauen.
Warum ist die Explizierung der eigenen Axiome so wichtig?
Axiome bestimmen, was beobachtet werden kann, und ohne ihre Explizierung bleibt jede Analyse beliebig und unfalsifizierbar.
Was wir von der #TheLuhmannMap mitbringen:
Mit #TheLuhmannMap unterscheiden wir vier autopoietische Systeme. Hier interessiert uns nur eines: das Soziale – das sich ausschliesslich durch Kommunikation erhält. Es gibt keine Gesellschaft ausserhalb von Kommunikation. Und: dieses System ist vollständig kontingent. Alles Sozinnte auch anders sein.
#TheStaubBernasconiMatrix ist eine grafische Darstellung der Axiome nach Silvia Staub-Bernasconi. Macht strukturiert das Soziale in 4 Dimensionen:
- Anordnung
- Zugang
- Legitimation
- Durchsetzung
Für jede dieser Dimensionen untersuchen wir:
- Welche positiven Pole möglich sind
- In welche Zerfallsformen sie kippen können
- Und welches Ziel eine strukturell stabile Form im Sozialen markieren könnte
Dabei interessiert uns nicht, wer etwas macht – sondern wie es gemacht wird, damit es im Sozialen anschlussfähig bleibt.
👉 „Macht ist eine Ressource, die Kulturformen strukturiert, indem sie durch Anordnung (Arrangement), Zugang (Access), Legitimation (Legitimation) und Durchsetzung (Enforcement) geformt wird.“
#TheStaubBernasconiMatrix
Arbeitsstand: 26. Februar 2025/sms ;-)
Die 4 Dimensionen der Macht:
1. Anordnung (Arrangement)
- Positive Werte:
- Hierarchie (Struktur und Effizienz)
- Egalitarismus (Gleichrangigkeit und Beteiligung)
- Zerfallsformen:
- Autoritarismus (rigide Kontrolle)
- Chaos (Auflösung von Ordnungsbezügen)
- Ziel: Anarchie
Überprüfung:
Anordnung betrifft die Formbildung sozialer Ordnung. Wird Differenzierung durch starre Hierarchien übersteuert, erstarrt das Soziale in Autoritarismus. Wird sie durch egalitäre Gleichsetzung aufgelöst, zerfällt Ordnung in Chaos. Zwischen beiden Extremen eröffnet sich Anarchie – nicht als Regellosigkeit, sondern als herrschaftsfreie Formstruktur, in der Ordnung ohne Zentrum möglich wird.
2. Zugang (Access)
- Positive Werte:
- Beschränkter Zugang (Schutz gemeinschaftlicher Ressourcen)
- Universeller Zugang (Offenheit und geteilte Nutzung)
- Zerfallsformen:
- Exklusivität (struktureller Ausschluss)
- Übernutzung (unkontrollierte Ausbeutung)
- Ziel: Commons
Überprüfung:
Zugang beschreibt im Sozialen die Bedingungen, unter denen Kommunikation an Ressourcen gekoppelt wird. Wird Zugang zu stark reguliert, zeigt sich Exklusivität – das Soziale verengt sich auf privilegierte Teilnehmende. Wird Zugang grenzenlos geöffnet, droht Übernutzung – Anschlussfähigkeit wird beliebig und Ressourcen werden entwertet. Zwischen diesen Polen entfalten sich Commons: Strukturen, in denen kollektive Regeln sowohl Offenheit ermöglichen als auch Schutz gewährleisten – nicht durch Gleichheit aller, sondern durch geteilte Verantwortlichkeit.
3. Legitimation (Legitimation)
- Positive Werte:
- Rechtfertigung (Begründung und Transparenz)
- Skepsis (Prüfung und Distanz)
- Zerfallsformen:
- Willkür (Intransparente Setzung)
- Paralyse (Entscheidungsunfähigkeit)
- Ziel: Inklusion
Überprüfung:
Legitimation betrifft die Geltungsbedingungen im Sozialen. Wird Rechtfertigung ohne Infragestellung gesetzt, verliert sie an Akzeptanz – Willkür wird anschlussfähig. Wird Skepsis absolut, blockiert sie jede Entscheidung – Paralyse verhindert Bewegung. Inklusion entsteht dort, wo Rechtfertigung und Zweifel sich wechselseitig begrenzen: Sinn wird anschlussfähig, ohne verordnet zu sein – Beteiligung wird möglich, ohne vorausgesetzt zu werden.
4. Durchsetzung (Enforcement)
- Positive Werte:
- Autoritative Durchsetzung (klare Erwartungssicherheit)
- Freiwilligkeit (Selbstbindung und Autonomie)
- Zerfallsformen:
- Repression (Zwang und Disziplinierung)
- Anomie (Verlust von Erwartbarkeit)
- Ziel: Pazifismus
Überprüfung:
Durchsetzung beschreibt im Sozialen die Bedingungen, unter denen Erwartungen stabilisiert werden. Wird Ordnung repressiv gesichert, entsteht Abhängigkeit von Zwang – Kommunikation reduziert sich auf Kontrolle. Wird Durchsetzung vollständig der Freiwilligkeit überlassen, entsteht Anomie – Regeln verlieren Bindungskraft. Pazifismus zeigt sich als Form, in der Erwartungen anschlussfähig bleiben, ohne Gewalt zu benötigen – eine Ordnung, die auf Gegenseitigkeit statt auf Drohung beruht.
Fallbeispiele
Historische Verortung
1. Jesus – die anarcho-pazifistische Lehre (um 30 n. Chr.)
– Anordnung: keine Titel, keine Macht, letzte*r soll der/die Erste sein
– Zugang: Armen gehört das Himmelreich, Kinder zuerst
– Legitimation: allein durch das Tun des Willens Gottes
– Durchsetzung: Gewaltverzicht, Feindesliebe, Kreuz als Konsequenz
2. Montanisten & Arianer – frühe radikale Bewegungen (2.–4. Jh.)
– Anordnung: prophetische Gleichheit, keine Priesterkaste
– Zugang: Offenheit für Vision, Berufung statt Herkunft
– Legitimation: Geistbezug statt Institution
– Durchsetzung: Askese, Martyrien, kein Zugriff auf Gewaltmonopol
3. Machtergreifung – Staats- & Machtkirche (ab 4. Jh.)
– Anordnung: Bischofshierarchie, zentrale Kontrolle
– Zugang: Kindertaufe, Sakramente als Zugangsbarriere
– Legitimation: Amtskirche, Konzile, Dogmen
– Durchsetzung: Exkommunikation, Ketzerverfolgung, Staatsgewalt
4. Täufer – die radikale Erinnerung (ab 1525)
– Anordnung: Brüderlichkeit, Kreisstruktur, Laienpredigt
→ besonders betont von:
Amische, Hutterer (mit Rotation von Ämtern), Zürcher Brüder (Basisentscheide, keine Priesterkaste)
– Zugang: Gütergemeinschaft, Kindertaufe abgelehnt, Freiwilligkeit betont
→ besonders betont von:
Hutterer (radikale Gütergemeinschaft), Zürcher Brüder (Taufverzicht als Zugangskritik), später Intentional Communities
– Legitimation: Bibel, Gewissen, Christusnachfolge – kein Amt
→ besonders betont von:
Mennoniten (Schrift + Gewissensethik), Quäker (innere Stimme, „light within“, ohne Bibel-Exklusivität)
– Durchsetzung: Wehrlosigkeit, Martyrium – statt Kontrolle
→ besonders betont von:
Mennoniten, Amische, Quäker (radikaler Pazifismus), Zürcher Brüder (Freiwilligkeit bis zum Tod)
5. Moderne – Zerfall der Ideale nach dem Holocaust (20. Jh.)
– Anordnung: technokratische Eliten, Expertokratien
– Zugang: Marktregeln, Bildungsexklusion, Nationalstaatsgrenzen
– Legitimation: ökonomischer Erfolg ersetzt Sinn und Ethik
– Durchsetzung: strukturelle Gewalt, Bürokratie, Ausschlüsse
6. Zürcher Schule – Systemische Erinnerung (seit 1970er)
– Anordnung: Sozialräume, Netzwerke, kollektive Intelligenz
– Zugang: offene Infrastrukturen, partizipative Settings
– Legitimation: Plausibilität, Transparenz, Dialog
– Durchsetzung: Freiwilligkeit, Selbstregulation, Diskurslogik
7. #NextSociety – die radikale Ermöglichung (ab 2025)
– Anordnung:
– flache Strukturen, dezentrale Koordination
– keine Chefposten, sondern Smart Contracts
– Governance als Myzel, nicht als Pyramide
– → Ziel: Anarchie als Ordnung ohne Herrschaft
– Zugang:
– freie Infrastruktur, keine Eintrittshürden
– alles, was geteilt werden kann, wird geteilt
– Commons nicht nur open, sondern free by design
– → Ziel: Commons als kollektive Ermöglichung
– Legitimation:
– keine Titel, kein Besitz, kein Ruhm
– nur: überprüfbare Relevanz & kollektive Resonanz
– Blockchain statt Herkunft, Sinn statt Bilanz
– → Ziel: Inklusion durch radikale Transparenz
– Durchsetzung:
– Reputationssysteme statt Polizei
– Vertrauen durch Rückverfolgbarkeit
– Protokolle ersetzen Gewalt
– → Ziel: Pazifismus durch technologische Ethik
Anwendungsbeispiele
Literatur
(Die sogenannte Züricher Schule, parallel zu #Bielefeld arbeiten, “gegen” die #Körpersoziologie von #Frankfurt ;-)
- Heintz, P. (1975). Anarchismus und Gegenwart: Versuch einer anarchistischen Deutung der modernen Welt. Europäische Verlagsanstalt.
- Heintz, P. (1979). Anarchismus und Gegenwart. Europäische Verlagsanstalt.
- Staub-Bernasconi, S. (1983). Soziale Probleme – Dimensionen ihrer Artikulation: Umrisse einer Theorie Sozialer Probleme als Beitrag zu einem theoretischen Bezugsrahmen Sozialer Arbeit. Rüegger Verlag.
- Brack, B.; Seydel, S.M. (1990). Macht / Prozessual-systemische Denkfigur nach Staub-Beransconi, Diplomarbeit OSSA, heute: Fachhochschule Ost, St. Gallen
- Staub-Bernasconi, S. (2007). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft: Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis (2. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Staub-Bernasconi, S. (2009). Human Rights and Their Relevance for Social Work as Theory and Practice. ResearchGate.
- Schmocker, B. (Hrsg.). (2013). Liebe macht Erkenntnis: Ein Lesebuch für Silvia Staub-Bernasconi. Seismo Verlag.
- Wikipedia. (n.d.). Peter Heintz. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 18. Februar 2025, von https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Heintz
- Wikipedia. (n.d.). Silvia Staub-Bernasconi. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 18. Februar 2025, von https://de.wikipedia.org/wiki/Silvia_Staub-Bernasconi
- Wikipedia. (n.d.). Stefan M. Seydel. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 18. Februar 2025, von https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_M._Seydel (gelöscht)
DIE SOZIALE FRAGE:
Erläuterungen, Ausführungen, Fragen, Anhang
Universell spannende Spannungsfelder des Sozialen
Obwohl es für das Modell in nicht-westlichen Kulturen Kritikpunkte und alternative Interpretationen gibt, bedeutet das nicht automatisch, dass das Konzept „westlich“ ist. Vielmehr zeigt es, dass jede Gesellschaft auf universelle Fragen—Ordnung, Zugang, Legitimation, Durchsetzung—eigene Antworten entwickelt hat. Die vier Spannungsfelder beschreiben grundlegende Dynamiken sozialer Organisation, aber ihre konkrete Ausgestaltung variiert.
Warum ist es nicht ausschließlich westlich?
- Universelle Relevanz: Jede Gesellschaft—ob in Afrika, China oder der arabischen Welt—muss sich mit diesen vier Themen auseinandersetzen. Sie alle haben Mechanismen entwickelt, um Machtstrukturen zu regeln, Ressourcen zu verteilen, Legitimität zu schaffen und Normen durchzusetzen.
- Kulturelle Variation statt Konzeptuelle Begrenzung: Das Konzept ist nicht einseitig normativ, sondern beschreibend. Während westliche Kulturen vielleicht einen stärkeren Fokus auf Transparenz oder individuelle Rechte legen, bieten andere Kulturen alternative Wege zur Bearbeitung dieser Spannungsfelder. Die Matrix ist eine analytische Struktur, die sich an verschiedene Kontexte anpassen lässt.
- Resonanz in nicht-westlichen Denkweisen: Elemente des Modells finden sich in verschiedenen philosophischen und sozialen Traditionen wieder. Konfuzianische Ethik, afrikanische Konsensorientierung oder islamische Rechtsphilosophie bieten alle eigenständige Interpretationen der vier Dimensionen.
Aber warum könnte es als „westlich“ gelesen werden?
- Begrifflichkeit und Kategorisierung: Die Art, wie die Spannungsfelder formuliert sind, lehnt sich an eine systematische, begrifflich scharfe Analyse an, wie sie in westlichen Wissenschaftstraditionen üblich ist. Konzepte wie „Autorität vs. Freiwilligkeit“ oder „Legitimation durch Transparenz“ könnten in anderen Kulturkreisen anders beschrieben oder gewichtet werden.
- Historischer Kontext der Theorieentwicklung: Das Konzept basiert auf Überlegungen von Luhmann und Staub-Bernasconi, die in einer westlichen akademischen Tradition stehen. Diese hat ihre Wurzeln in bestimmten historischen Prozessen (Aufklärung, Liberalismus, Demokratietheorie), die in anderen Regionen andere Wege genommen haben.
- Fokus auf Abstraktion und Systematik: In vielen nicht-westlichen Gesellschaften wird Wissen eher narrativ oder relational vermittelt als durch schematische Unterscheidungen. Die Matrix könnte daher als eine „westliche“ Art der Strukturierung gelesen werden, auch wenn ihre Inhalte universell sind.
Fazit: Universell, aber kulturell eingebettet
Die vier Spannungsfelder sind keine rein westlichen Konstrukte, sondern beschreiben universelle soziale Dynamiken. Ihre westliche Prägung zeigt sich eher in der methodischen Darstellung und der Begrifflichkeit. Würde man die Matrix aus einer nicht-westlichen Perspektive denken, könnte man sie möglicherweise anders benennen oder anders gewichten—doch die zugrunde liegenden Fragen bleiben bestehen.
Anstatt das Konzept als „westlich“ oder „nicht-westlich“ zu klassifizieren, wäre eine produktive Weiterentwicklung, es so zu öffnen, dass verschiedene kulturelle Perspektiven sich darin wiederfinden können.
Zum Beispiel:
Eine Möglichkeit wäre, die vier Spannungsfelder so zu reformulieren, dass sie stärker kulturell anschlussfähig sind. Dazu könnte man:
- Die Begriffe neu kontextualisieren
- Statt „Hierarchie vs. Egalitarismus“ könnte man von „sozialer Ordnung vs. gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung“ sprechen.
- Statt „Autoritative Durchsetzung vs. Freiwilligkeit“ könnte man „soziale Kontrolle vs. Eigenverantwortung“ verwenden.
- Regionale Beispiele einfügen
- Statt von westlichen Vorstellungen von Legitimation zu sprechen, könnte man Beispiele aus verschiedenen Gesellschaften einbauen (z. B. das Mandat des Himmels in China, die Ältestenräte in afrikanischen Gesellschaften oder die Scharia als rechtliche Legitimation in islamischen Ländern).
- Mehrere Zugänge parallel anerkennen
- Die Matrix könnte nicht als ein starres Raster verstanden werden, sondern als flexibles Beobachtungsinstrument, das verschiedene kulturelle Antworten berücksichtigt.
- Erweiterung durch kulturelle Konzepte
- Man könnte für jede der vier Dimensionen alternative kulturelle Begrifflichkeiten einführen:
- Anordnung: „Harmonie (Konfuzianismus) vs. Konsens (Ubuntu) vs. Regelbasierte Organisation (westliche Bürokratie)“
- Zugang: „Familienbasierte Solidarität (arabische Welt) vs. Commons (afrikanische Dorfgemeinschaften) vs. Marktlogik (kapitalistische Gesellschaften)“
- Legitimation: „Göttliche Ordnung (religiöse Gesellschaften) vs. Konsens und soziale Anerkennung (indigene Kulturen) vs. Transparente Institutionen (westliche Demokratien)“
- Durchsetzung: „Ehrensysteme (arabische Stämme) vs. Soziale Kontrolle durch Netzwerke (China) vs. Rechtssysteme (westlicher Liberalismus)“
- Man könnte für jede der vier Dimensionen alternative kulturelle Begrifflichkeiten einführen:
Was wäre das Ergebnis?
- Die vier Spannungsfelder blieben als analytisches Modell erhalten, wären aber flexibler interpretierbar.
- Sie würden nicht mehr als eine spezifisch westliche Kategorisierung erscheinen, sondern als ein offenes Instrument, das verschiedene kulturelle Ansätze miteinander vergleichbar macht.
- Statt einem universellen Set von Definitionen würde es ein Set von Beobachtungsfragen geben, das je nach kulturellem Kontext anders beantwortet wird.
So könnte das Modell auch von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen genutzt werden, ohne dass es als eine westliche Brille wahrgenommen wird.